Alternative Fakten in der Schachgeschichte? Nein! Aber Klarstellungen sind nötig.

„Über den Ursprung guter Züge“ von Willy Hendriks – eine Buchempfehlung der ELG

Alternative Fakten sind keine Erfindung der Neuzeit, sondern nur eine prägnante Wortschöpfung, um ein Phänomen zu umschreiben, das vermutlich so alt ist wie die Menschheit selbst, dass nämlich die objektive Sachlage nicht immer mit den subjektiven Wahrnehmungen und vor allem nicht den Berichten darüber übereinstimmen muss. Auch das Schach bildet hier keine Ausnahme, sondern hat mit seinen vielen Geheimnissen wohl eher noch dazu eingeladen, im Laufe vieler Jahrhunderte Legenden zu produzieren, die sich schnell zu „alternativen Fakten“ verdichten können. Umso erfreulicher ist es, dass sich eine immer größer werdende Schar fleißiger Schachhistoriker weltweit darum bemühen, trotz oft schwieriger Quellenlage mit immer mehr Erfolg immer mehr Licht in das schachgeschichtliche Dunkel zu bringen. Die ELG unterstützt und fördert diese Aktivitäten nach Kräften und ist stolz darauf, was in den 20 Jahren ihres Bestehens schon mit ihrer Hilfe oder aufgrund der von ihr gesetzten Impulse erreicht wurde. Ob der bekannte Autor Willy Hendriks von diesen Impulsen inspiriert wurde, als er sich auf die lange Reise begab, den „Ursprung guter Züge“ zu erforschen, mag dahingestellt bleiben. Gelungen ist ihm diese Forschungsreise allemal. Ausgehend vom Zeitalter des „romantischen Schachs“ zeigt er in seinem Werk auf, dass schon die alten Meister das Handwerk des positionellen Schachs lange vor dem ersten Weltmeister Steinitz beherrschten. Laskers These, dass Steinitz die Grundzüge des „positionellen Schachs“ als erster grundlegend erfasst und formuliert hat, muss daher wohl neu bewertet werden.

Auch jenseits der Lasker-Monographie von 2009 oder der neuen Lasker-Trilogie ab 2018 erlebt Lasker seit vielen Jahren ein facettenreiches Comeback in der allgemeinen Schachliteratur, was kaum verwundern kann, lassen sich doch zahlreiche historische Themen mit seiner Person und seinem Wirken bestens verbinden. Er war aus schachhistorischer Sicht halt nicht nur zur rechten Zeit am rechten Ort, sondern hat als Schachweltmeister auch 27 Jahre lang die Entwicklung des Schachs in einer Zeit mitgestaltet und geprägt, die weltweit vor gravierenden Umwälzungen in allen Lebensbereichen nur so strotzte. Möglicherweise nahm er es dabei selbst aus vielen Gründen mit der objektiven historischen Sachlage nicht immer so genau, sondern war durchaus bereit, zur Popularisierung des Schachs auch einfach-verständlichere und damit eingängigere Alternativen zu präsentieren, die sich bis heute hartnäckig in Berichten über ihn und das alte und moderne Schach gehalten haben. Als Geburtsstunde des modernen Schachs wird gern das erste große Weltklasseturnier führender Schachmeister in London von 1851 angesehen, das im Rahmenprogramm der ersten Internationalen Weltausstellung den damit letztlich propagierten Sieg der Industrialisierung, der Wissenschaften und der Künste, also letztlich den damals wohl noch unbegrenzten Zukunftsglauben an den Sieg der menschlichen Vernunft über alles andere widerspiegeln sollte. 1851 gab es einen auch öffentlich ausgetragenen Wettstreit darum, wer eigentlich der beste Schachspieler der Welt sei und wie dies objektiv ermittelt werden könnte. Damals stritten Vertreter der Schachnationen aus Frankreich, England und Deutschland um diesen Titel. Die Frage nach dem gerechten WM-Modus ist wohl bis heute offen, obwohl der moderne Ansatz noch den besten Versuch darstellen dürfte, dem gerecht zu werden und aktuell mit Magnus Carlsen unumstritten den besten Spieler als Weltmeister ausweist. Das Turnier von 1851 gewann damals sensationell der aus Breslau stammende Adolf Anderssen, der bis auf das kurze Intermezzo von Paul Morphy lange Jahre als „inoffizieller“ Weltmeister galt. Aufgrund seiner Turniererfolge reklamierte später Wilhelm Steinitz diesen Titel für sich. Erst ab 1886 gab es aber die ersten „offiziellen“ Weltmeisterschaftskämpfe, die in Schachduellen zweier anerkannter Meister ausgetragen wurden. 1886 hieß der Sieger Wilhelm Steinitz, der 1894 von Lasker entthront wurde, der dann erst 1921 diesen Titel an Capablanca abgeben musste. Diese Ära beleuchtet Willy Hendriks mit großem Schach- und Sachverstand und zeigt auf, dass das „moderne Schach“ nicht erst in 1851 begann. Dabei räumt er auf äußerst unterhaltsame Weise mit vielen von Lasker selbst geförderten Mythen und Legenden über die Zeit vor, zu und nach seiner Zeit auf, die sich um die Entwicklung des Schachs von seinen romantischen Ursprüngen hin zu einem positionell-wissenschaftlichen Stil ranken:

Willy Hendriks: On the Origin of Good Moves. New In Chess, paperback, Englisch, ISBN: 978-90-5691-879-8, 429 Seiten, 2020, ca. 30,- €.

Das Werk „The Origin of good moves“ von Willy Hendriks, das schon mit seinem originellen Cover zum Entdecken einlädt und aufzeigt, ist für alle kultur- und geschichtsinteressierten Zeitgenossen ein Genuss. Herbert Bastian, selbst Internationaler Schachmeister, Schachhistoriker und Altpräsident des Deutschen-Schachbundes meint zu diesem Werk:

Der kompetente Autor (* 1966, Internationaler Meister, Schachtrainer) bietet 36 Kapitel mit unterschiedlichen Schwerpunkten aus der Ideengeschichte des Schachspiels vor allem im 19. Jahrhundert, jeweils garniert mit überzeugenden Partiebeispielen. Er widerlegt zahlreiche Behauptungen über das Können und den Stil der alten Meister, die von Generation zu Generation abgeschrieben wurden. Besonders lesenswert ist seine Diskussion der Lasker-Steinitz-Theorie des Positionsspiels in den Kapiteln 17 bis 26, die einen guten Mittelweg zwischen den Polen „Alles stammt von Steinitz“ (Lasker, Lehrbuch des Schachspiels ,1926) und „Lasker hat seine eigenen Ideen auf Steinitz projiziert“ (Purdy, The great Steinitz hoax, 1978) auslotet. Man hat das Gefühl, dass in dieser Angelegenheit das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Für mich ein Spitzenwerk, für historisch interessierte Leser ein „Muß“!

Dem ist nichts hinzuzufügen. Wer aber noch tiefer in das Schaffen und Wirken von Lasker und seinen Zeitgenossen eintauchen möchte, dem seien natürlich die Lektüre der Lasker-Monographie von 2009 oder der neuen Lasker-Trilogie dringend ans Herz gelegt. Wer sich schnell selbst ein Bild von Laskers Spielstärke machen möchte, dem sei die unterhaltsame Videoserie von Deutschlands spielstärkster Schachgroßmeisterin Elisabeth Pähtz über die Schach-WM von 1894 auf unserer Homepage empfohlen.

Berlin, im April 2021

Thomas Weischede,

Vorstandsvorsitzender der ELG