Laskers Corner

CHESSFIGURES # 01/24

Solo für Deutschmann # 03

Fake and Fiction

„Wie soll ich einen Mann respektieren, der nicht einmal Schach spielen kann?“ Dieser wunderbare Satz stammt nicht von Emanuel Lasker, sondern von der Schachspielerin Kelly Atkins. Ich habe ihn in der Sammlung der schönsten Schachzitate auf der Website des Schachclubs Donaueschingen gefunden und natürlich sofort versucht, Näheres über Frau Atkins in Erfahrung zu bringen, denn das muss ja eine tolle Frau sein, die einen solchen Satz der Männerwelt entgegenschleudert: Schach spielen können als minimale Voraussetzung für Respekt. Das ist schon starker Tobak! Aber sie hat natürlich Recht. Schach gehört zwar nicht zu den universitären sieben freien Künsten, aber Schach springt irgendwo im Dreieck zwischen Kunst, Wissenschaft und Sport herum. Das ist nicht nur zu respektieren, das kann man auch estimieren. Dazu bedarf es allerdings gewisser Vorkenntnisse. Leo Tolstoi schrieb: „Ich bedaure jeden, der das Schachspiel nicht kennt. Bringt es schon dem Lernenden Freude, so führt es den Kenner zu hohem Genuss.“ Selbstverständlich auch die Kennerin. Man muss nicht das Brett im Kopf haben, obwohl es dort besser aufgehoben ist als vor dem Kopf. Man muss auch nicht die Notation einer eben gespielten Blitzpartie herunterrattern können. Schachkultur kommt unaufgeregter daher. Jonathan Rowson eröffnet uns eine Perspektive: „Schach ist eine Feier existenzieller Freiheit.“ In der künstlich erzeugten Zeitnot einer Bullet-Partie mit 60 Sekunden Bedenkzeit kann sie sich zum sinnlosen Exzess steigern, aber eine freie Partie hat durchaus ihre kontemplativen Momente. Schach – mit Verstand gespielt – ist eine wunderbare Sache. Mit Schach hält sich der Terminator wach und er schärft seine Konzentration, versichert uns Arnold Schwarzenegger. Schach ist das Spiel, das die Verrückten gesund hält, hat Professor Einstein diagnostiziert. Vielleicht hat er diese Erkenntnis bei einem der gemeinsamen abendlichen Spaziergänge auch einem skeptisch dreinblickenden Emanuel Lasker anvertraut. Lasker und Einstein wohnten beide in Schöneberg. Man schätzte sich. Die Voraussetzungen dazu waren gegeben, und wo Dissens herrschte, trat vermutlich Respekt auf den Plan. Wie gesagt, der wunderbare Satz „Wie soll ich einen Mann respektieren, der nicht einmal Schach spielen kann?“ stammt nicht von Lasker. Leider auch nicht von Frau Kelly Atkins. Bei meiner Suche nach ihr, bin ich nur auf einen Mr. Kelly Atkins Senior Editor von Chessville.com gestoßen. Schade, eigentlich. Man sollte das Zitat einfach Beth Harmon aus „Queens Gambit“ zuschreiben. Könnte gut sein, dass es dann in der nächsten Staffel von der wunderbaren Anya Taylor-Joy einem Schachspieler der misogynen Sorte am Brett serviert wird!

Solo für Deutschmann # 02

Aphorismen sind etwas für Leute mit wenig Zeit. Bitte schön: „Das Schachspiel ist ein See, in dem eine Mücke baden und ein Elefant ertrinken kann“. Fast jeder Schachspieler kennt diese altindische Weisheit, hat sie irgendwann gelesen und innerlich abgenickt: „Da ist wohl was dran!“ Sir Arthur Conan Doyle betrachtete das Schachspiel aus der Perspektive von Sherlock Holmes und stellte fest: „In zehn Mordfällen gibt es nicht so viele Geheimnisse wie in einer Partie Schach“. Emanuel Lasker hätte vermutlich mit naturwissenschaftlichem Interesse und detektivischem Sachverstand darauf hingewiesen, dass Mücken nicht baden können, weil sie die Oberflächenspannung des Wassers davon abhält, einzutauchen. Aber genau dieser Umstand macht es ihnen möglich, über das Wasser zu laufen. Einen Schritt weiter gedacht, drängt sich folgende Vermutung auf: Ist das Schachspiel nicht vielmehr ein Wasser, über das ein Elefant laufen und in dem eine Mücke untergehen kann? Nicht immer, aber manchmal! Es gibt jedenfalls Partien Laskers, die diesen Verdacht erhärten, etwa seine berühmte Partie gegen Harry Nelson Pillsbury mit den magischen Turmzügen. Laskers geistreiche, geradezu paranormale Verteidigungskunst triumphierte in der Turnierarena wiederholt in sogenannten verlorenen Stellungen. Der Neid der Konkurrenten raunte vom Laskerschen Schachglück. Nüchtern und neidlos betrachtet ist doch seit der Erfindung des Schachs klar: Eine Partie ist dann verloren, wenn ein Spieler aufgibt oder nachweislich matt gesetzt wurde. In unserer Zeit kommt noch der Gebrauch des Smartphones auf der Toilette hinzu. Schon ein Piepsen des Handys in der Hosentasche kann heute eine Partie entscheiden. Und das ist auch gut so, denn das Schach lebt wie keine andere Sportart davon, dass der Spieler autonom agieren muss. Aus diesem Grunde werden heute Partien auch nicht mehr unterbrochen und vertagt! Das ist der besondere Reiz eines Schachwettkampfes: Gedankliche Arbeit in absoluter Ruhe und keinerlei Einfluss von außen. Absolute Eigenverantwortlichkeit bis zum Ende des Kampfes, und das macht auch den Unterschied zum Boxen. Beim Schach muss man, wenn es soweit ist, das Handtuch selbst werfen. Schach ist in den letzten Jahren zu Recht immer mehr in Mode gekommen. Ein analoges, haptisches Spiel, das mit der digitalen Welt in hervorragender Weise kompatibel ist. Trotzdem ist die direkte Begegnung zweier Menschen am Schachbrett nicht zu ersetzen. Über den 64 Feldern scheint die Sonne der Gerechtigkeit, darauf hat schon Emanuel Lasker hingewiesen. Schließen wir für heute mit dem Philosophen Schopenhauer: “Schach überragt alle anderen Spiele wie der Chimborasso* einen Misthaufen“. Nicht besonders diplomatisch, aber einprägsam!

*Chimborasso, Berg in Ecuador 6263. Erstbesteigung 1880, zwanzig Jahre nach Schopenhauers Tod

Solo für Deutschmann # 01

Laskers Corner – so nenne ich diese Glosse und denke dabei an die berühmte Ecke im Hyde Park. Die gibt es seit 1827, es ist aber nicht bekannt, ob Emanuel Lasker dort jemals über den gesunden Menschenverstand oder über Entscheidungsfindungen in pandemischen Lagen gesprochen hat. Anlass dazu hätte er als Zeitzeuge der Spanischen Grippe (1918 – 1920) allemal gehabt. Karl Marx und George Orwell jedenfalls haben an Speaker’s Corner die Öffentlichkeit gesucht und noch heute kann sich jeder dort auf eine Kiste stellen und über Gott und die Welt reden. Nur die Queen sollte er aussparen, denn sonst könnte es Ärger geben. Allerdings gibt die Queen schon seit längerer Zeit keinen Anlass zu kritischen Bemerkungen. Queen Elizabeth macht einen souveränen Eindruck und die Stimmung im Königreich, das sich a tempo aus der Krise impft, ist besser als bei uns. Bei der ersten nationalen Trauerfeier für die Opfer der Seuche beschwor Bundespräsident Steinmeier den Zusammenhalt der Gesellschaft: Wut haben, das dürfe man, räumte er ein, aber von Schuldzuweisungen sollte man absehen. Da hat er recht, aber gilt das für alle? Die Schauspieler und Schauspielerinnen, die ihr Unbehagen über das konzertierte Krisenmanagement von Regierung und Medien in mehr oder weniger gelungener satirischer Form und (#allesdichtmachen) mit gewagter Ironie an die Öffentlichkeit brachten, wurden mit einem Hagel von schärfster Kritik, Schmähungen und Drohungen überzogen. Plötzlich wollten Journalisten entscheiden, was Satire ist und was nicht. Vor Jahren avancierte ein Jan Böhmermann mit einem ziemlich dreckigen Schmähgedicht über den kranken Mann am Bosporus – unter medialen Beifall – zum systemrelevanten Satiriker. Unter Coronabedingungen gilt jetzt die Freiheit der Kunst bei vielen Zeitgenossen nicht mehr viel. Es wird höchste Zeit, dass sich in Deutschland die Herdenimmunität einstellt, damit die Gemüter sich beruhigen können. Behalten wir die Nerven. Zähigkeit ist gefragt. Und da ist Emanuel Lasker ein gutes Vorbild. Schlechte Stellungen haben ihn nie davon angehalten, gut zu spielen. Ganz im Gegenteil lief er dort oft zur größter Form auf. Sein Motto hieß „in der Krise muss man kämpfen, um gewinnen zu können“, aber mit Sinn und Verstand und vor allem Anstand. Bei einem Sieg sowieso und bei einer Niederlage noch viel mehr.