Die Schachnovelle von Stefan Zweig
Im brasilianischen Exil setzte Stefan Zweig mit seinem letzten und wohl bekanntesten Werk „Die Schachnovelle“ dem Schach ein Denkmal von Weltrang. Die Erstausgabe erschien postum am 07. Dezember 1942 in einer limitierten Auflage von 300 Exemplaren. Es folgten unzählige weitere Auflagen in zahlreichen Sprachen, die das Bild des Schachs jahrzehntelang weltweit geprägt haben. 1960 wurde das Werk verfilmt. Am 23. September 2021 kommt die Neuverfilmung in die deutschen und österreichischen Kinos.
Die zweigschen Schachcharaktere wirken für Schachspieler fast ein wenig überzeichnet. Die Dramaturgie des Stücks überzeugt aber ebenso wie der kristallklare Sprachstil des alten Meisters. Seine Erfassung des „königlichen Spiels“ zählt zu Recht zu den Perlen der Schachkultur. Der Text lautet:
„Ich wusste wohl aus eigener Erfahrung um die geheimnisvolle Attraktion des „königlichen Spiels“, dieses einzigen unter allen Spielen, die der Mensch ersonnen, das sich souverän jeder Tyrannis des Zufalls entzieht und seine Siegespalmen einzig dem Geist oder vielmehr einer bestimmten Form geistiger Begabung zuteilt. Aber macht man sich nicht bereits einer beleidigenden Einschränkung schuldig, indem man Schach ein Spiel nennt? Ist es nicht auch eine Wissenschaft, eine Technik, eine Kunst, schwebend zwischen diesen Kategorien wie der Sarg Mohameds zwischen Himmel und Erde, eine einmalige Bindung aller Gegensätzepaare: uralt und doch ewig neu, mechanisch in der Anlage und doch nur wirksam durch Phantasie, begrenzt in seinen Kombinationen, ständig sich entwickelnd und doch steril, ein Denken, das zu nichts führt, eine Mathematik, die nichts errechnet, eine Kunst ohne Werke, eine Architektur ohne Substanz und nichts destominder erwiesenermaßen dauerhafter in seinem Sein und Dasein als alle Bücher und Werke, das einzige Spiel, das allen Völkern und allen Zeiten zugehört und von dem niemand weiß, welcher Gott es auf die Erde gebracht, um die Langeweile zu töten, die Sinne zu schärfen, die Seele zu spannen. Wo ist bei ihm Anfang und wo das Ende: jedes Kind kann seine ersten Regeln erlernen, jeder Stümper sich in ihm versuchen, und doch vermag es innerhalb dieses unveränderbar engen Quadrats eine besondere Spezies von Meistern zu erzeugen, unvergleichbar allen andern, Menschen mit einer einzig dem Schach zubestimmten Begabung, spezifische Genies, in denen Vision, Geduld und Technik in einer ebenso genau bestimmten Verteilung wirksam sind wie im Mathematiker, im Dichter, im Musiker, und nur in anderer Schichtung und Bindung.“
Stefan Zweig hat den Erfolg und Ruhm seines Werks nicht mehr erleben können. Sein Freitod am 23. Februar 1942 hat dies verhindert. Die Welt hat damit einen großartigen Künstler und einen überzeugten Pazifisten und Europäer verloren. In seinem Werk wirken seine Kunst und diese Überzeugungen fort. Das Schach kann Stefan Zweig nur auf ewig dankbar sein, dass er auf diese Weise Schach, Kunst und Kultur zu einem Ganzen geführt hat, das noch heute jung wie alt zu begeistern vermag.
In der Ausgabe 1/2010 mit dem Schwerpunkt „Schach & Literatur“ hat sich das Schachkulturmagazin KARL intensiv mit der Schachnovelle befasst. Die Ausgabe kann noch heute bei KARL hier nachbestellt werden. Insbesondere wegen solcher Leistungen wurde KARL im Laskerjahr 2018 mit einem „Lasker“ für besondere Verdienste zur Förderung des Schachs als Kultur- und Bildungsgut geehrt. Natürlich hätte auch Stefan Zweig diese Auszeichnung verdient gehabt. Als er 1942 gut ein Jahr nach Lasker verstarb, war an solche Preise aber noch nicht zu denken. Damals lag die „Welt von gestern“ – wie Zweig die Friedenszeit vor dem 1. Weltkrieg literarisch bezeichnet hat – endgültig in Trümmern. Die ELG begreift es daher als Pflicht und Auszeichnung zugleich, an solche Persönlichkeiten und ihre Werke zu erinnern.
Berlin, im Juni 2021
Thomas Weischede, Vorstand ELG